Das Geheimnis der Soldatengräber an der Göhrde
Wer immer sich mit der Geschichte der Freiheitskriege beschäftigt, stößt unweigerlich auf den Namen Eleonore Prohaska. Sie war eine junge Preußin Tochter eines Unteroffiziers, die sich eine Uniform kaufte, sich als Mann ausgab und sich bei den Lützower Jägern einschreiben ließ. In der Schlacht an der Göhrde am 16. September 1813 wurde sie schwer verwundet und starb am 05. Oktober 1813 an Wundbrand in Dannenberg.
Ein zeitgenössischer Bericht vom 07. Oktober 1813 aus Dannenberg meldet: Heute morgen, 9 Uhr wurde die Leiche der in der Schlacht an der Göhrde verwundeten Eleonore Prohaska zur Erde bestattet, welche als Jäger im Lützowschen Freikorps unerkannt ihren Arm aus reinem Patriotismus der heiligen Sache des Vaterlandes geweiht hatte. Gleich einer Jeanne d’Arc hat sie mutvoll gekämpft den Kampf für König und Vaterland. Trauernd folgten dem Sarge, der von ihren Waffenbrüdern getragen wurde, das hannöversche und russisch-deutsche Jägerkorps, der Oberst Graf Kielmannsegg nebst sämtlichen Offizieren. Der königlich preußische Grand maitre de la Garderobe, Minister und außerordentlicher Gesandter Graf de Groote, hatte sich ebenfalls eingefunden. Eine dreimalige Gewehrsalve rief der vom Sturm des Krieges geknickten Lilie den letzten Gruß nach in das Grab.
Diese Geschichte hat seither Millionen von Menschen bewegt, denn das Schicksal der Eleonore Prohaska ist signifikanter Ausdruck für das damals stark vaterländisch geprägte Bestreben nach Freiheit. Auch Manfred Rast, Zollbeamter aus Langendorf, der seinen Dienst am Grenzübergang Bergen/Dummeversieht, hat sich von diesem Schicksal anrühren lassen und sich dann weiter mit den Freiheitskriegen und eben jener Schlacht in der Göhrde beschäftigt.
Und ganz automatisch kam er auf die Frage, auf der jeder kommt, der sich mit der einschlägigen Literatur beschäftigt: Was hat man mit den Gefallenen gemacht? Die lässt sich noch beatworten, denn es ist bekannt, dass Train-Soldaten der Alliierten gemeinsam mit Bauern aus der Umgebung am Tage nach der Schlacht die Gefallenen begraben haben. Da für Einzelgräber logischerweise keine Zeit blieb, konnte Manfred Rast davon ausgehen, dass zumindest die einfachen Soldaten in Massengräbern beigesetzt wurden.
Aber wo? Das war das Rätsel, vor dem er stand. Sicher war nur: Diese Gräber müssen in unmittelbarer Umgebung des Schlachtfeldes liegen. Denn wer hätte sich damals schon die Mühe gemacht, die Leichen weit zu transportieren?
Es steht nicht ganz fest, wie viele Soldaten am 16. September 1813 fielen. Die Verluste der Alliierten sind genau bekannt. Graf von Wallmoden verlor 32 Offiziere, 526 Mann und 306 Pferde. Aber ungewiss sind die Verluste der Franzosen: 400 Tote – das ist die geringste Zahl, die man annehmen darf. Graf Wallmoden selbst schätzte die Zahl der getöteten Gegner auf 1.500 (und nennt auch 1.500 Gefangene). Diese Zahl ist aber unwahrscheinlich, denn dann wäre die gesamte französische Streitmacht entweder tot oder in Gefangenschaft geraten. Es ist aber bekannt, dass zahlreiche Franzosen entkommen sind. Also liegt die Zahl der Toten irgendwo zwischen 950 und vielleicht 1.500, realistisch mögen es etwa über tausend Gefallene sein.
Der Beginn der Forschung
Die Frage, wo all diese Toten begraben sein mögen, ließ Manfred Rast nun nicht mehr los. Er setzte sich zunächst mit dem Dannenberger Archäologen Dr. Bernd Wachter in Verbindung, der ihn wiederum an den Dannenberger Archivar den Lehrer im Ruhestand R. Krüger, verwies. Beide konnten nicht weiterhelfen. Rast suchte nun Kontakt zu älteren Landwirten in den um den Steinker Berg liegenden Ortschaften und befragte sie. Besonders der Bauer Hinrichs aus Lüben erzählte plastisch von dem, was Vater und Großvater ihm überliefert hatten.
Hinrichs war es auch, der Manfred Rast am Steinker Berg auf vier nebeneinander liegende Vertiefungen hinwies, jede von ihnen etwa 4 Meter breit und um die 70 Meter lang, voneinander getrennt durch etwa 60 Zentimeter hohe Wälle. Waren das die Massengräber? Dr. Wachter winkte ab, und zu Recht: „Das sind ehemalige Hochäcker“, lautete sein fachkundiger Kommentar.
Doch Manfred Rast ließ sich davon erstmal nicht beeindrucken und und nahm Anfang 1983 dort fünf Probegrabungen vor. Ergebnis, wie erwartet: negativ. Er hätte auf Dr. Wachter hören sollen. Parallel zu den alten Hochäckern aber erstreckt sich ein freier Platz. Nun vermutete Rast, dass dort die gefallenen Soldaten begraben sein könnten. Er grub und fand nichts. Dann aber war er plötzlich auf der richtigen Fährte. Ihm fiel eine hannoversche Karte von 1820 in die Hände, und auf dieser Karte war eine Straße von 9,20 Meter Breite eingezeichnet, nebst acht Straßenbegrenzungssteinen. Als Manfred Rast diese Trasse, die auf der Karte etwa von Süd nach Nord verläuft, im Gelände suchte, fand er sie nicht. Laut Karte hätte sie nur zwei Steinwürfe entfernt vom Göhrdedenkmal verlaufen müssen. Aber sie war einfach nicht da, nichts als schlichter Kiefernwald.
Stattdessen fand Manfred Rast einen Weg, der südlich vom Denkmal von der in der Karte eingezeichneten Trasse abschwenkt, in einem weiten Bogen östlich davon verläuft und schließlich wieder auf die Trasse in der Karte mündet.
Warum, so überlegte Rast, fahren Bauern, die ja rationell denken, nicht den geraden, in der Karte eingezeichneten Weg? Warum fahren sie freiwillig einen Bogen?
Und da kam ihm die Erleuchtung:
Irgendwer in der hannoverschen Regierung hat 1820 am grünen Tisch, ohne sich etwas dabei zu denken, eine schnurgerade Straßentrasse in die Karte gezeichnet und durch die Landschaft gelegt, und diese Trasse muss geradewegs über die Soldatengräber hinweggegangen sein.
Die Bauern und ihre Söhne und Töchter, die ja 1813 noch zusammen mit den Train-Soldaten die Gefallenen begraben hatten, aber wussten ja damals noch, wo die Gräber waren und scheuten sich, einfach mit ihren Fuhrwerken auf der neuen Straße über sie hinwegzufahren. Aus Pietät oder einer natürlich Scheu davor, die Ruhe der toten Soldaten zu stören, fuhren sie eben einen Bogen und schufen sich damit in Jahrzehnten einen Weg, der heute noch in jenem Kiefernwald existiert. Manfred Rast hatte den Schlüssel des Geheimnisses in der Hand.
Engländer kommen zu Hilfe
„Du brauchst Sonden, mit denen man Metallteile im Boden aufspüren kann“, sagte sich Manfred Rast und wandte sich an den Kampfmittelbeseitigungsdienst des Bundes, der über solche Sonden verfügt.
Der Kampfmittelbeseitigungsdienst aber verwies ihn an das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst.
Nur wenn das Ministerium Rasts Forschungen für wichtig halte, könne er eine Sonde haben.
Manfred Rast schrieb also an das Ministerium und sagt heute (1984): „Die haben nicht einmal geantwortet.“ Auch Telefonate mit dem Ministerium blieben ohne Erfolg.
Da wandte sich der Zollbeamte um Unterstützung an eine britische Militärabteilung, die in Gusborn stationiert ist. „Ihr hat damals auf unserer Seite gekämpft“, argumentierte Rast, „könnt Ihr mir helfen?“ Die Engländer konnten: Major Axtom beschaffte eine Sonde aus Munster und stellte Personal zur Bedienung und zur Hilfe beim graben ab.
Zu Manfred Rasts Helfern wurden nun in erster Linie der junge Captain Andrew Field, der Warent Officer (Stabsfeldwebel) Michael Green, der übrigens fließend Deutsch spricht und früher in Berlin stationiert war, und Private Andrew Meacock.
Man muss sich vorstellen, dass zu Zeiten der Befreiungskriege der Steinker Berg vorwiegend Heidefläche war. Heute ist er bewaldet mit Kiefern (es schein Anflugwald zu sein) und ein bisschen Mischwald. Über Generationen hinweg sind Kiefernnadeln auf den Boden gefallen, eine dicke Humusschicht hat sich gebildet.
Also ging es zunächst darum, die in der Karte von 1820 eigezeichnete Trasse wiederzufinden. Die britischen Soldaten maßen nach der alten Karte den Weg neu ein, und Manfred Rast fand von den acht eingezeichneten Straßenbegrenzungssteinen tatsächlich drei unter einer etwa 20 Zentimeter dicken Humusschicht wieder.
Die Lützowsche Uniform
Die Arbeit mit der Sonde brachte zunächst nichts, doch schließlich entdeckte Michael Green damit alte Kistenriegel und ein Metallteil, das aussieht, als wäre es eine Kanonenaufschlagpfanne.
Aber dann, im Februar dieses Jahres (1984), wurde Manfred Rast bei der ersten Grabung auf der in der Karte eingezeichneten Trasse auf Anhieb fündig: Er entdeckte als Bodenvverfärbung zwei nebeneinanderliegende Skelettkonturen (Skelettschatten) und darunter die Kontur der typischen Knopfanordnung der Lützowschen Uniform.
Er hatte das Rätsel gelöst.
Der Gedenkstein von 1985
Für die an dieser Stelle bestatteten gefallenen Soldaten der Göhrdeschlacht vom 16. September 1813 wurde 1985 ein Gedenkstein mit Metalltafel errichtet.
Quelle: Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 1984
Fotos: Andreas Springer, Bad Bevensen